Montag, 21. Mai 2007

Evento Nazionale di Erasmus a Capo Vaticano (Calabria)

18. Mai, früh morgens





Ein kräftiger Ruck. Die Bremsen quietschen, dann steht der Zug still. Zum dritten Mal in wenigen Stunden hat jemand die Notbremse gezogen. Einfach so zum Spaß, weil sie betrunken waren eben. Auch die Feuerlöscher haben sie aus reinem Übermut aus den Verankerungen gerissen und Klos und Gänge damit weiß gepudert.
Hand auf Schulter tanzen lange Polonäseschlangen von Wagon zu Wagon, begleitet vom „Alcol, alcol, alcol, alcol…nananananana…!“-Schlachtruf. Man zieht von einem 6er Abteil zum nächsten um sich freudig auf das größte Erasmus-Treffen, das ESN (Erasmus Student Network) bisher in Italien organisiert hat, einzustimmen: 1000 Studenten aus ganz Europa (vereinzelt auch ein paar Amis und Brasilianer) werden die nächsten drei Tage in Capo Vaticano, an der tyrrhenischen Küste Kalabriens verbringen.

Schon am Spätnachmittag war der Sonderzug in Mailand losgefahren, hat dann über Parma und Florenz in jeder größeren Stadt an der Strecke die Erasmusstudenten aufgesammelt. Nach Rom und Neapel im Morgengrauen drängen sich fast alle der 1000 Teilnehmer in den Alkohol geschwängerten Wagen.

Trink oder stirb heißt heute Nacht die Devise. Wer sich nicht schon beim stundenlangen Warten am Bahnhof - in freundlicher Nachbarschaft mit ein paar Pennern, die sich beeindruckt von der riesigen Bowleschüssel (=Einkaufswagen mit Müllsäcken ausgekleidet und randvoll mit Sangria)zu uns gesellt haben - auf einen gewissen Pegel eingetrunken hat, ist arm dran: Als ich nüchtern in den Zug steige, trifft mich fast der Schlag: So was hab ich noch nie gesehen! Eine unvorstellbare Orgie tobt in den alten Wagons mit 70er Jahre Interieur. Ausnahmslos zukünftige Akademiker zerlegen im Rausch den kompletten Zug, es wird rumgeschubst, auf die gläsernen Abteiltüren eingedroschen, jedem, der im Ansatz zu schlafen versucht, wird mit dem Megafon das Gehör aus dem Kopf geblasen. Jetzt wird mir klar, was die Spanier immer damit gemeint haben, wir deutschen könnten nicht richtig „feiern“.





Gegen Mittag haben wir die Tortour überstanden. Doch anstatt die krankenhausreife Bande direkt an den Strand zu entlassen, werden wir mit Reisebussen noch zu einer Konferenzhalle befördert, in der die Begrüßungsveranstaltung mit den Bürgermeistern der umliegenden Dörfer und Gemeinden stattfand. Schon nach wenigen Minuten hat’s da drin so unglaublich nach Alkohol, nach ungeputzten Zähnen, nach angekotzten Kleidern und ungewaschenen Jungs gedünstet, ein Wunder, dass das Podium nicht sofort geflüchtet ist. Während der Bürgermeister von Capo Vaticano noch mit verzerrtem Gesicht „Erasmus“ als „Futuro dell’Europa“ preist, stimmt die desinteressierte Masse wieder in den „Alcol, alcol, alcol...“ - Chor ein. Für viele ist das die traurige Essenz von Erasmus: Ein Semester Koma-Saufen.

Das Erasmus Student Network, deren selbst gewählte Aufgabe es eigentlich ist, sich um die fremden Studenten in ihrem Land zu kümmern, ihnen ihre Kultur näher zu bringen und bei Alltagsschwierigkeiten zu helfen, tragen mit Schuld an dem Feier-Anspruch, den einzigen, den viele an ihr Auslandssemester erheben: In jeder Mail, sei es die Einladung zum frühmorgendlichen Osterpicknick oder dem Kulturtrip nach Ostia Antica, wird in Fettschrift daran erinnert ja an den „Alcol per fare una bella festa“ zu denken.

19. Mai





Als wir beim Frühstück auf der großen Terrasse am Meer sitzen, hab ich die anstrengende Zugfahrt schon fast vergessen. Ich bin ich gut drauf, freu mich auf die Trips nach Tropea („atemberaubend schöne, uralte Stadt auf einem Felsen hoch über dem türkisblauen Meer“, schreibt der Reiseführer) und Spilonga, einem paarhundert Seelen Dorf, das extra für die Erasmus-Invasion ein Dorffest mit Musik von den „Calabria Esaurita“, traditionellen Spielen und kalabrischen Spezialitäten (sauscharfe Salami und Käse) veranstaltet hat. Die Jungs der Coverband sind schon etwas in die Jahre gekommen: Alle drei sind sie bereits weiß-grau, rocken aber von Knocking on Heavens Door über altitalienische Schnulzen als ob sie 20 wären. Als am Ende eine Tarantella gespielt wird, tapst ein italienischer Opi gebückt durch die tanzenden Studenten und fordert schließlich die Mädels zum traditionellen Tanz auf. Wir sind außer uns, bilden einen Kreis um ihn und feuern den tanzenden Greis lauthals an. Che bellissimo!

20. Mai





In Capo Vaticano sind wir in einem riesigen Feriendorf untergebracht. Immer zu 4. oder 5. bewohnen wir Bungalows, nur ein paar Schritte vom Meer entfernt. Nach dem gestrigen Kulturprogramm ist heute Urlaub angesagt. Direkt nach dem Aufstehen geht’s an den Strand, lesen, faulenzen, baden, Kultur-Unterschieds-Gespräche führen. Heute bin ich mir sicher: Jedem ist freigestellt, sein Semester hier zu gestalten wie er möchte. Wer Lust drauf hat, sich jeden Abend zu betrinken, soll er doch. Wenn es allein diese Gespräche spät am Morgen sind, dann wenn der Rausch einer gewissen Melancholie und Nachdenklichkeit gewichen ist, in denen immer wieder um unsere verschiedenen Kulturen geht, hat Erasmus etwas Entscheidendes geleistet: Man bekommt eine Ahnung davon, was Europa voneinander hält und denkt, wir erfahren in welche Schubladen wir Deutsche gesteckt werden und welche unserer Vorstellungen schlicht falsch sind. Ein tolles Gefühl, wenn man’s gemeinsam schafft, das ein oder andre Vorurteil aus der Welt zu schaffen: „Ich dachte immer ihr Deutschen seit alle so reserviert und bitterernst!“, wunderten sich die Portugiesen. Manches können wir tatsächlich schmunzelnd bestätigen, zum Beispiel, dass wir generell eine bessere Organisation, ein besseres Zeitmanagement gewohnt sind. (Dass der Treffpunkt auf vier Stunden vor Abfahrt des Zuges festgelegt werden muss, weil von mindestens drei Stunden Verspätung aller Spanier ausgegangen wird, ist für uns unglaublich!) Wir sind nicht so Großgruppen vernarrt und haben vielleicht nicht so viel „Feuer“ in uns wie die Südländer. Mir jedenfalls fehlt irgendwie die Energie jeden Morgen bis acht oder zehn Party zu machen, wenn ich gegen vier Uhr nach einer durchtanzten Nacht das Handtuch geworfen habe, wird das als typisch deutsch abgestempelt. Von einem Vorurteil musste aber auch ich mich dieses Wochenende verabschieden: Portugiesen und Spanier können nämlich sehr wohl fiese Sonnenbrände kriegen!